Geldverschwendung bei elektronischer Patientenakte im Schatten von Corona
Viele Milliarden Euro werden wegen der Corona-Pandemie ausgegeben. Spielt da eine Milliarde mehr für Fehlinvestitionen bei der Digitalisierung keine Rolle mehr? Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens will Minister Spahn eine weitere Milliarde Euro in den Sand setzen.
Mit dem jüngst in erster Lesung beschlossenen Digitale Versorgung und Pflege – Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) lösen moderne interoperable IT-Kommunikationsverfahren schrittweise bis 2025 die jetzige Konnektor-basierte Telematik-Struktur ab.
Vorgeschichte
Die elektronische Versichertenkarte und das Schalten sicherer Verbindungen zwischen den verschiedenen Heilberufen über Konnektoren mit entsprechenden Kartenlesegeräten war bereits beim Amtsantritt von Minister Spahn im Frühjahr 2018 veraltete Technik aus dem Anfang dieses Jahrtausends. Statt eines Neuanfangs, zu der Kanzlerin Merkel ihm freie Hand gab, entschied sich der Minister zum Fortsetzen. Die bereits für das Projekt ausgegebenen 3 Milliarden Euro wollte er wohl nicht einfach abschreiben. Außerdem hatte er den Ehrgeiz, bis zur nächsten Bundestagswahl ausgereifte digitale Anwendungen in seinem Ressort Gesundheitswesen vorweisen zu können. Deshalb schrieb er in seine Digitalisierungsgesetze einen sehr ambitionierten engen Zeitplan für die Realisierung einer elektronischen Patientenakte (ePa) sowie der digitalen Übertragung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (eAU) und Rezepten (eRp). All das sollte im Laufe des Jahres 2021 funktionsfähig sein. Wegen der jahrelangen Verzögerungen, das Konzept war bereits im Jahr 2005 beschlossen, nahm er mit 51% der Geschäftsanteile bei der Gematik das Zepter selbst in die Hand.
Da keinerlei Mehrwert für das ärztliche Handeln bei der unfertigen Telematik (TI) erkennbar war, zögerte die Ärzteschaft, Konnektoren und Leseterminals zu kaufen und zu installieren. Zudem beurteilte sie das Projekt zwiespältig. Einerseits war der Bedarf da, rasch und unkompliziert die Vorbefunde des kranken Menschens vor sich einsehen zu können, andererseits bestanden und bestehen Bedenken, dass über die Internetanwendungen sensible Krankendaten in falsche Hände geraten und irreparablen Schaden anrichten könnten. Immerhin sind in verschiedensten Ländern, die bereits eine ePa führen, entsprechende Datenpannen vorgekommen. Zuletzt im Oktober 2020 in Finnland. Die FAZ titelte „Tausende von Menschen öffentlich entblößt“. Im November dann in Deutschland “Hacker greifen Kliniken an“. Verlassen Krankendaten den geschützten Raum einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses und werden übers Internet weiter verbreitet, ist es unabdingbar, Missbrauch zu verhüten. Also die Sorge um die Wahrung des Arztgeheimnisses ist hochgradig berechtigt. Die Schwierigkeit, dem Rechnung zu tragen, ist einer der geringeren Gründe, warum die Telematik noch immer wenig vorweisen kann. Fakt ist jedenfalls, viele Arztpraxen verweigerten den TI-Anschluss. Der Gesundheitsminister reagierte mangels vorzeigbarer nutzbringender Anwendungen mit Geldstrafen. Um 2,5 Prozent der Quartalsvergütung wird jeder Praxis das Honorar gemindert bei Nicht-Anschluss. Diesem finanziellen Druck sind mittlerweile nach offiziellen Angaben 80 bis 90 Prozent der Praxen erlegen und haben sich an die TI anschließen lassen. Bei einer aktuellen Umfrage der AOK Nordost unter 700 Arztpraxen hatten jedoch nur 72 % einen Konnektor. Das Projekt kommt jedenfalls nicht fristgerecht voran, vornehmlich weil das konnektor-basierte Grundkonzept nicht für die geplanten Funktionen taugt. Der Konnektor ermöglicht nur die Übertragung eines Datenvolumens von maximal 25 MB. Zuwenig für CT- oder MRT-Bilder. Kartenterminals sind nicht desinfizierbar, ein Manko gerade zu Coronazeiten. Eine Legitimation der ärztlichen Person für den Datenzugriff mittels Konnektor erzwingt stationsgebundenes Arbeiten, das besonders im Krankenhaus und großen MVZ hinderlich ist. Sichere VPN- Tunnel können auch ohne Konnektor aufgebaut werden. Auch fehlt die nötige Interoperabilität zwischen den verschiedensten Gliederungen unseres Gesundheitswesens mit ihren vielfältigen digitalen Insellösungen. Kurz, jetzt hat mit dem o.g. DVPM-Gesetz Minister Spahn die längst überfällige Korrektur und das Ende des Konnektor(Un)wesens eingeleitet.
Geplantes
Schrittweise werden bis spätestens 2025 die Konnektoren, die Karten-basierten Legitimationen wie Heilberufsausweis (HBA), Institutionskarte (SMC) und die elektronische Versichertenkarte (eGK) wieder abgeschafft. Die NFC-fähigen (kontaktloses Einlesen wie bei der Bankkarte) Versichertenkarten werden zur Zeit gerade eingeführt, fallen dann wieder weg. Die nicht-updatefähigen Konnektoren der ersten Generation müssen bereits 2022 ersetzt werden. Als Versicherungsnachweis dient ab dem 1. Januar 2024 eine digitale Identität. Die Mitglieder der Heilberufe werden autorisiert durch die jeweiligen Kammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen, so dass der HBA und die SMC entfallen.
Telematik-Zeitplan der Digitalisierungsgesetze: |
Zum 1.1.2021 ePa verschoben auf 1.07.2021 |
Zum 1.1.2021 eAU verschoben auf 1.10.2021 |
Ab 1.4.2021 e Arztbrief (in Erprobung) |
Ab 1.4.2021 eRezept verschoben auf 1.10.2021 |
Neuer Zeitplan des DVPMG: |
Bis zum 30. Juni 2022 kontaktlose Schnittstelle |
Bis 1. Januar 2023 Speicherung elektron. Medikationsplan nicht mehr auf elektronischer Gesundheitskarte, nur noch in elektronischer Patientenakte |
Bis 1. September 2024 Übermittlung ärztlicher Verordnungen der Heilmittel und Hilfsmittel in elektronischer Form |
Bis 1. Juli 2023 Betrieb der nationalen eHealth-Kontaktstelle zum grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten |
Bis 1. Januar 2024 Anschluss von Hebammen und Physiotherapeuten (Heilmittelerbringer) an die Telematik-Infrastruktur |
Der ehrgeizige Zeitrahmen des Ministers dabei aber ist zu eng und nicht zu halten. Die Softwarehäuser kommen nicht hinterher, beispielhaft die Klage der EDV-Schmiede Duria: „E-Rezept, ePA, eAU auf einmal. Das ist alles illusorisch“. So wurde auch die ePa vom Januar auf den Sommer und und die eAU auf den Spätherbst des Jahres verschoben.
Geldverschwendung
Sie fragen, wo ist jetzt die Geldverschwendung, es ist doch richtig, das tote Konnektor-Pferd nicht länger zu reiten und auf moderne Verfahren zu setzen. Das stimmt. Unsinnig und kritikwürdig aber ist, jetzt zweigleisig fahren zu wollen und gutes Geld dem verlorenen hinterher zu werfen. Denn neben der Entwicklung von Zukunftstechnologie wird weiterhin unter Strafandrohung der Ausbau des Auslaufmodells Konnektor von den Heilmittelberufen erzwungen. Unsinnig wegen der absehbaren Verschrottung in zwei bis drei Jahren, denn vor 2022 wird nichts Praxistaugliches fertig sein. Herr Klose, Unterabteilungsleiter der Gematik, kündete im September 2020 an „Am Anfang kann es etwas rumpeln“. Mit Unausgereiftem sollen die Praxen arbeiten, schrittweise werden dann im laufenden Betrieb auftretende bugs und Pannen beseitigt. Aber die komplexen Praxisabläufe vertragen keine EDV-Fehler, die die Krankenversorgung zum Stocken bringen. Funktionierende nutzbringende digitale Anwendungen sind längst im ambulanten wie stationären Bereich im Einsatz, alles ohne Zwang, nur wegen offensichtlich vorteilhafter Funktionen. Stolpersteine will sich keiner in seine Praxis legen.
Wird das Konnektorwesen nur parallel weitergeführt, um nach den vielen Ankündigungen etwas vorweisen zu können? Denn noch anderes spricht gegen das zweigleisige Fahren, nämlich dass die Ressourcen von Informatikern begrenzt sind. Das Auslaufmodell zum Laufen bringen und gleichzeitig die zukunftsträchtigen Pläne realisieren dürfte überfordern und die Fehlerrate steigern lassen.
Welche Beträge sollen unnötig investiert werden?
Um welche Summen geht es bei der aus meiner Sicht unsinnigen Geldausgabe? Die Kassen erstatten für den TI-Anschluss einer mittelgroßen Praxis im Schnitt 3900 Euro. Von 75.000 Arztpraxen und 13.000 Psycholog. PsychotherapeutInnen sind offiziell ca. 13.000 Praxen noch nicht angeschlossen (Verweigerer), tatsächlich werden es gemäß der AOK-Umfrage wohl 24.000 sein ohne Konnektor. Nehmen wir 20.000, mal 3900 € = 78 Mill. €. Geschätzte 60.000 Praxen brauchen eine neue Erstausstattung oder updates und neue NFC- Kartenterminals, die meisten mehrere = 43000 x 3900€ = ~ 168 Mill.€. Hinzu kommen Einrichtungsausgaben für weitere 10.000 Apotheken (laut Apothekerzeitung ist die Hälfte der knapp 20 T Apotheken bereits an die TI angeschlossen), mal 2000 € = 20 Mill. €. Die rund 2000 Krankenhäuser benötigen wohl mindestens eine zweistellige Zahl von Konnektoren und Kartenterminals für die verschiedenen Abteilungen (20 T x10 x 2 T = 80 Mill. €. Die Ausstattung der Hebammen, Physiotherapeuten und übrigen Heil- und Hilfsmittelerbringer kosten laut DVPMG 55000 x 1600 € = 88 Mill. €. NFC-Versichertenkarten für 73 Millionen Versicherte x 5€= 365 Mill. €. Die Kassen werden auch belastet mit knapp 1000 € pro Jahr für die Erstattung laufender Kosten (die von den IT-Firmen abgeschöpft werden), bei knapp 88.000 Praxen = 88 Millionen jährlich und Ähnliches für Apotheker und Krankenhäuser kommt noch dazu. Die Investitionskosten der Praxen sind höher als die Erstattungsbeträge. Man kann von einer Unterdeckung zwischen 1000 bis 3000 € ausgehen. Das ergibt, multipliziert mit der Praxenzahl, über 100 Mill.€ , die die Praxen selbst schultern müssen. Laut AOK-Umfrage haben zudem erst 34 Prozent der Ärztinnen und Ärzte einen kostenpflichtigen HBA.
Also für das Updaten, das Anschließen der Restpraxen, der Apotheken, der Krankenhäusern und der Heilmittelerbringern auf das bisherige Konnektorsystem soll noch eine weitere Milliarde Euro ausgegeben werden. Das ist ein riesiges Geschenk an die beteiligten IT-Firmen zu Lasten der Krankenkassen und der Steuerzahler. Da kommt der Gedanke auf an Lobbyismus. Die drei Männer verstehen sich sehr gut, Minister Spahn, der ehemalige Pharma-Manager Markus Leyck Dieken, den der Minister bei doppeltem Gehalt zum Chef der Gematik machte, und der Chef der Compugroup Frank Gotthard, auch Digitalisierungsberater der Bundesregierung. Die Compugroup, Marktführer bei der Praxis-EDV, ist parallel zu Telematikaufträgen zum großen transnationalen Konzern gewachsen.
Die Zeit läuft
In diesem Jahr werden von Monat zu Monat immer mehr Praxen, Krankenhäuser, Apotheken und Heilberufler dem Gesetzeszwang erliegen und sämtliche Investitionen getätigt haben. Das Einsparpotential von einer Milliarde Euro wird also von Woche zu Woche geringer. Denn es ist nicht erkennbar, dass von Regierungsseite das Weiterführen des Alten neben der Vorbereitung des Neuen unterbunden wird. Das ist nicht verwunderlich, weil kein Außenstehender die oben geschilderte Situation überblickt und allerorten nur die Vorteile der Digitalisierungsmassnahmen des Ministers Spahn gepriesen werden. Auch die Oppositionsparteien erkennen nicht die Geldverschwendung, weil mit immer neuen Zukunftszenarien die Tücken des Jetzigen überdeckt werden.
Ich hoffe auf eine öffentliche Diskussion. Denn es bietet sich eine Alternative an. Es sind genügend Institutionen an die Telematik angeschlossen, um verschiedenste Anwendungen mit gutwilligen Pionieren zu testen und zur Produktreife zu bringen, auch die unter dem Begriff TI 2.0 substituierten Neuerungen des DVPMG. Da ist es überfällig, die bislang nicht mit der TI verbundenen Praxen und Häuser vom Zwang zu befreien, jetzt noch Geld für Geräte auszugeben, die sich nicht in zwei, drei Jahren amortisieren.
Funktionierende nützliche EDV benötigt keinen Druck, um eingesetzt zu werden, sondern wird immer ein Selbstläufer sein. Die verschwendete Milliarde Euro wird den Krankenkassen bei der Krankenversorgung fehlen.
(Sollten Sie Fehler feststellen, bitte Mitteilung)
Nachtrag 8.4.2021 Laut KBV-Meldung von heute nahmen im Jahr 2020 180.581 (2019: 177.581) Ärzte und Psychotherapeuten an der vertragsärztlichen Versorgung teil – davon 150.850 (2019: 149.710) Ärzte und 29.731 (2019: 28.116) Psychotherapeuten. Das heißt, die kalkulierten Zahlen sind noch zu niedrig. Auch müssen wesentlich mehr einen elektronischen Heilberufsausweis sich für wenige Jahre zulegen.